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Ein neuer Sputnik-Schock?

Von Gerhard Lechner

Politik

Mit dem ersten Satelliten im All in den 1950er Jahren wurde klar, dass die Sowjetunion den Westen in manchen Bereichen abgehängt hatte. Jetzt punktet Russland mit einem Impfstoff gleichen Namens. Wie gut sind die russischen Forscher?


Als Russlands Präsident Wladimir Putin inmitten der Covid-Krise am 11. August vergangenen Jahres als Erster mit einem Impfstoff vorpreschte, war die Skepsis vor allem im Westen noch groß. Allzu rasch schien das Registrierungsverfahren gelaufen zu sein, als dass man von einer sicheren Impfung ausgehen konnte. Allzu gering ist (nicht nur) im Westen das Vertrauen in das intransparente russische System. Zwar war das Vakzin vom international renommierten Gamaleja-Institut in Moskau entwickelt worden, was Vertrauen hätte schaffen können. Außerdem hätte Putin mit einem fehlerhaften Impfstoff eine Riesenblamage für Russland und sich selbst riskiert. Doch spätestens der Umstand, dass der Impfstoff mit "Sputnik V" den klingenden Namen jenes sowjetischen Erdsatelliten verpasst bekam, der den USA in den 1950er Jahren ihre technologische Rückständigkeit in der Raumfahrtindustrie vor Augen führte, ließ in den westlichen Industrieländern viele mitleidig lächeln.

Das Tempo bei der Zulassung, dazu der Name "Sputnik", das schien vor allem Russlands innigen Wunsch zu versinnbildlichen, die westlichen Rivalen auf technologischem und wissenschaftlichem Gebiet endlich einmal hinter sich zu lassen - ein Wunsch und Anspruch, der in der fortschrittsgläubigen Sowjetepoche in dem Motto "Amerika einholen, Amerika überholen" Ausdruck fand. Auch zuvor schon hatten sich Reformer unter russischen Zaren wie Peter der Große oder Alexander II. darum bemüht, das traditionell rückständige Agrarland an die europäische Moderne anzudocken. Doch trotz aller Teilerfolge, die man dabei mit teils äußerst brutalen Methoden - wie etwa unter Sowjetdiktator Josef Stalin - erzielte, hinkt Russland bis heute der Entwicklung im Westen hinterher.

 

Gut wirksam, gut verträglich

Und dennoch: Dem Nachfolgestaat des "Obervoltas (Burkina Faso, Anm.) mit Raketen", wie der deutsche Ex-Kanzler Helmut Schmidt die Sowjetunion einmal abschätzig bezeichnete, gelingen dann doch zu viele Überraschungen, als dass sich das Bild vom rückständigen Russland, das sich im Westen über Jahrhunderte eingekerbt hat, so einfach aufrechterhalten ließe. Und das nicht nur auf dem Gebiet der Rüstung, wo Präsident Putin immer wieder neue High-Tech-Waffen wie etwa Überschallraketen präsentiert. Sondern eben auch in anderen Bereichen wie dem medizinischen.

Dass man im Westen einräumen musste, dass der russische Impfstoff hoch wirksam und zugleich gut verträglich ist, ist für Putin ein mehr als willkommener Achtungserfolg - gerade in Zeiten wie diesen, wo er innenpolitisch unter Druck steht: Als EU-Außenbeauftragter Josep Borrell vergangene Woche Russland zu dem Erfolg mit dem Vakzin gratulierte, wurde diese Passage in einem Video des russischen Außenministeriums einer Aussage des inhaftierten Oppositionspolitikers Alexej Nawalny gegenübergestellt. Dieser hatte noch im August, als "Sputnik V" präsentiert wurde, gelästert, die Ankündigungen des Kreml könnten nichts als Gelächter hervorrufen. Entsprechend groß ist die Genugtuung in der russischen Führung darüber, dass das Vakzin international Resonanz findet und auch in der EU, die bei der Impfstoffbeschaffung zu zaghaft vorgegangen ist, verimpft werden könnte.

Forschung weitgehend frei von Ideologie

"Tatsächlich kann Russland in naturwissenschaftlichen Fächern international immer wieder große Erfolge vorweisen", sagt der Politologe Gerhard Mangott der "Wiener Zeitung". Das hängt auch mit dem Fokus auf die Rüstungsforschung zusammen, aber nicht nur. Sondern auch mit dem Erbe der Sowjetunion, die den fortschritts- und naturwissenschaftsgläubigen Marxismus als Staatsdoktrin hatte. Schon Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin hatte die technokratische Parole "Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung" ausgegeben. Sein Nachfolger Stalin setzte auf brutalen Zwang zur Industrialisierung, um den "Sozialismus in einem Land" aufzubauen. Seither gibt es in Russlands akademischer Welt eine Spezialisierung auf die naturwissenschaftlichen Fächer. Dazu kommt, dass die Naturwissenschaften weitgehend frei blieben von dem ideologischen Mehltau, der sich über die Sozial- und Geisteswissenschaften in der Sowjetzeit legte.

Zumindest weitgehend: Denn zu Stalins Zeiten gelang es etwa dem Agrarwissenschafter Trofim Lyssenko mit seiner These, dass die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen nicht durch Gene, sondern nur durch Umweltbedingungen bestimmt würden, die sowjetische Genetik als "faschistisch" und "bourgeois" zu denunzieren und freie Forschung zu verunmöglichen.

"Es wird wieder investiert"

Nach dem Zerfall der Sowjetunion standen viele Forscher plötzlich vor dem Aus. Die Förderung naturwissenschaftlicher Zentren ging deutlich zurück. "Viele fähige Wissenschafter wanderten entweder ins Ausland oder in wissenschaftsferne Bereiche ab", berichtet Mangott.

Mit dem wirtschaftlichen Wiederaufstieg Russlands unter Putin in den Nullerjahren habe sich das freilich wieder geändert. "Es wird wieder viel mehr in die Forschung investiert", sagt der Russland-Experte. "Man hat es heute mit sehr fähigen jungen Wissenschaftern zu tun. Es gibt im Wesentlichen keinen großen Unterschied zwischen westlicher und russischer naturwissenschaftlicher Forschung." Man zeige sich im Riesenreich auch offen dafür, Forschungsergebnisse industriell zu verwerten.

Der Westen lockt mit Geld und Prestige

Dennoch wanderten vor allem in den letzten acht bis zehn Jahren viele junge Forscher aus Russland ab. Warum? "Die jungen Wissenschafter sind heute, was ihre Forschung betrifft, zwar völlig frei. Sie bewegen sich allerdings in einer Gesellschaft, in der ihre politischen und sozialen Rechte eingeschränkt sind und der Staat eine große Überwachungsfunktion einnimmt. Und das wird von vielen Forschern als unzumutbar eingestuft. Viele wandern deshalb aus", analysiert Mangott.

Dies ist für Russland dann besonders bitter, wenn gut ausgebildete Talente, etwa im IT-Bereich, ausgerechnet zum geopolitischen Hauptkonkurrenten USA abwandern - der auch noch mit guter Bezahlung und (zumindest im IT-Staat Kalifornien) angenehmerem, wärmerem Klima lockt. Sowie mit dem Prestige, es geschafft zu haben.

Wo sich der Staat einmischt

Anders sieht die Situation in Russland im Bereich der Geistes- und Sozialwissenschaften aus, wo sich der Staat stärker einmischt. "Hier merkt man doch deutlich, dass russische Politologen oder Soziologen nur wenig von der westlichen Literatur rezipieren", sagt Mangott. Man glaube, auf westliche Ansätze gänzlich verzichten zu können.

"Vielen meiner russischen Dissertanten fehlt das methodische Grundwerkzeug", sagt Mangott. Das würde auf Russlands Universitäten zu wenig unterrichtet. "Über einen russischen Mathematiker, Physiker oder Chemiker würde ich so etwas sicher nie sagen."