Zum Hauptinhalt springen

Beginn einer Erfolgsgeschichte

Von Rolf Steininger

Vor 60 Jahren wurde in Rom die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft gegründet.


Im Palazzo Senatorio wurden am 25. März 1957 die "Römischen Verträge" unterzeichnet (u.a. von Konrad Adenauer, 5. v.l. i.d. 1. Reihe).
© Ullstein-Bild (nachträglich koloriert).

"Die ganze Sache geschah in Rom. Wir standen unter Zeitdruck, und es gab ein gewisses Durcheinander. Als um 16 Uhr alles zur Unterzeichnung bereit war, herrschte eine Stimmung, die einem wirklich zu Herzen gehen konnte. Natürlich war ausgesprochen schlechtes Wetter, und es regnete in Strömen, als plötzlich von allen Kirchtürmen Roms die Glocken erklangen. Die ganze Stadt war von diesem Läuten erfüllt, die Menschen versammelten sich auf den Straßen oder saßen dicht gedrängt vor den Fernsehapparaten in den Gasthäusern."

Der Schuman-Plan

So schildert ein Augenzeuge aus Luxemburg jenes Ereignis am 25. März 1957, als die Vertreter Frankreichs, Italiens, Belgiens, Luxemburgs, der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) unterzeichneten. An jenem denkwürdigen Tag, einem Montag, begann eine Erfolgsgeschichte, die nach 60 Jahren wieder in Frage gestellt wird: Das vereinigte Europa steht vor seiner bisher größten Bewährungsprobe.

Ausgangspunkt war der Zweite Weltkrieg und die damit verbundene Frage, wie Europa und die Welt vor einer erneuten deutschen Aggression bewahrt werden konnten. Nach der Teilung Deutschlands 1949 lautete die Antwort: Kontrolle und Sicherheit vor Deutschland durch Integra-
tion von Deutschland. Im State Department in Washington hieß es damals: "Wenn es keinen Grund für die Einigung Europas gäbe, Europa würde sie dennoch benötigen, um mit dem deutschen Pro-blem fertig zu werden."

Den entscheidenden Schritt machte Frankreich: Am 9. Mai 1950 schlug Außenminister Robert Schuman vor, "die Gesamtheit der französisch-deutschen Kohle- und Stahlproduktion unter eine gemeinsame Oberste Aufsichtsbehörde zu stellen." Der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer war kurz zuvor informiert worden und hatte vorbehaltlos zugestimmt. Der amerikanische Außenminister Dean Acheson bezeichnete den Plan als einen bedeutenden Beitrag zur Lösung der dringenden politischen und wirtschaftlichen Probleme Europas - und das waren in erster Linie die deutsch-französische Aussöhnung und die Einbeziehung der Bundesrepublik in ein vereinigtes Europa.

Die Initiative der französischen Regierung führte schließlich im April 1951 zur Unterzeichnung des Vertrages über die Gründung der "Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl" (EGKS) zwischen Frankreich, der Bundesrepublik, den Beneluxstaaten und Italien.

Parallel zu den Schumanplan-Verhandlungen einigten sich die beteiligten Europäer auf die Bildung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG), eine Art "Schumanplan auf dem Verteidigungssektor". Im Mai 1952 wurden die entsprechenden Pläne unterzeichnet. Sie sahen den Aufbau einer europäischen Armee vor, aber eben auch eine politische Gemeinschaft, ein entscheidender Schritt hin zur Integration Europas. Am 30. August 1954 scheiterte dieses Projekt am Votum der französischen Nationalversammlung. Adenauer sprach damals von einem "schwarzen Tag für Europa".

Dass der Gedanke einer europäischen Integration aber wieder aufgegriffen wurde, hing auch mit der Sorge der Benelux-Länder und Italiens über die Pläne zur deutsch-französischen Annäherung zusammen. Um dieser "Sonderentwicklung" vorzubeugen, begann die Suche nach Einigungsprojekten, die ohne großen Widerstand durchgesetzt werden konnten und geeignet waren, die Lähmung des Integrationsprozesses zu überwinden.

Konferenz in Messina

Hierzu bot sich die Erweiterung der Befugnisse der EGKS auf die Energiebereiche Gas, Elektrizität und Atom, sowie auf die Verkehrspolitik an. Hinter dieser Initiative stand der "Vater der europäischen Integration" und der eigentliche Schöpfer des Schuman-Plans, der Franzose Jean Monnet, der seine neue Einigungsinitiative dem belgischen Außenminister Paul-Henri Spaak vortrug.

Spaak wurde dann so etwas wie der spiritus rector der neuen Integrationsbewegung. Er initiierte Anfang Juni 1955 eine Konferenz in Messina, die zur entscheidenden Wende in der Geschichte des europäischen Aufbauwerks wurde. Die Minister beauftragten Spaak, die weiteren Beratungen zu koordinieren. Spaak sagte zum Abschluss der Konferenz: "Wir haben ein neues Verfahren eingeführt, das zwar nicht vollkommen ist, das uns aber Mut gibt und das man als neuen Anlauf zum Aufbau Europas werten kann."

Der von Spaak geleitete Ausschuss legte im April 1956 einen Bericht vor, in dem Mittel und Wege zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes aufgezeigt wurden. Der liberal-wirtschaftlich denkende deutsche Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard war darüber nicht gerade begeistert. Für ihn war der gemeinsame Markt als eine Zollunion "volkswirtschaftlicher Unsinn". Die exportabhängige Bundesrepublik erhoffte sich eine Freihandelszone, deren Errichtung die Briten im Herbst 1956 vorschlugen.

Suez-Krieg und Ungarn

Erhard musste sich aber von Adenauer belehren lassen, worum es bei der europäischen Integration ging: sie sei das notwendige "Sprungbrett" für die Bundesrepublik, "um überhaupt wieder in die Außenpolitik zu kommen". Und außerdem: "Europäische Integration ist auch um Europas willen und damit um unsretwillen notwendig." Sie sei vor allem deshalb notwendig, weil die Vereinigten Staaten sie als Ausgangspunkt ihrer Europapolitik betrachteten, "und weil ich genau wie Sie die Hilfe der Vereinigten Staaten als absolut notwendig für uns betrachte".

Frankreich forderte damals eine Sonderrolle als Atom- und Kolonialmacht und zudem die Harmonisierung der Sozialleistungen in den potentiellen Beitrittsländern. Diese Forderung empfand Erhard als geradezu absurd. Manche befürchteten bereits ein Scheitern des Projekts und sprachen von Krise.

Diese wurde aber überwunden. Zwei Gründe waren dafür ausschlaggebend: Das von den USA und der Sowjetunion erzwungene Ende des Suez-Krieges, bei dem Frankreich mitgemacht hatte, und die Niederschlagung des Ungarnaufstandes durch die Sowjets Anfang November 1956. Beide Ereignisse verstärkten das Gefühl für die Notwendigkeit der europäischen Einigung. Frankreichs Ministerpräsident Guy Mollet, ein überzeugter Europäer, nutzte diese Stimmung, um die Verhandlungen durch größere französische Konzessionsbereitschaft zu beschleunigen.

Am 25. März 1957 wurden die Verträge unterzeichnet. Durch die Gründung der EWG sollte ein gemeinsamer Wirtschaftsmarkt geschaffen werden, dessen Kennzeichen eine Zollunion war. Sie sollte den freien Warenverkehr, die Freizügigkeit, den freien Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Ausarbeitung gemeinsamer Richtlinien insbesondere für die Landwirtschaft und den Verkehr ermöglichen.

Die Verträge konnten als Grundlage für eine Weiterentwicklung dienen, bargen zugleich aber auch das Risiko eines Abgleitens in bloße Verwaltung. Die gleichzeitige Gründung von Euratom sah einen gemeinsamen Markt zur friedlichen Nutzung der Kernenergie vor. Die Gemeinschaften stellten so eine Herausforderung dar, an der sich Kreativität und Mut der Europäer bewähren konnten.

2017 blickt die Europäische Gemeinschaft einer ungewissen Zukunft entgegen . . .
© Jugoslav Vlahovic

Spaak meinte damals: "Wenn wir Erfolg haben, wird dieser Tag als einer der wichtigsten in die Geschichte Europas eingehen." Adenauer äußerte sich dazu in einem seiner berühmten "Teegespräche" vor ausgewählten Journalisten: "Man kann, meine Herren, sehr schwer geschichtliche Urteile aussprechen, wenn alles noch in Bewegung ist, aber vielleicht ist dieser Zusammenschluss das wichtigste Ereignis der Nachkriegszeit."

In den folgenden Jahren gab es zwar immer wieder Krisen, aber irgendwie wurden sie überwunden. Die erste Krise gab es 1963, als der französische Staatspräsident Charles de Gaulle den Beitritt Großbritanniens zur EWG durch sein Veto verhinderte. Großbritannien hatte es 1950 abgelehnt, Mitglied der EGKS zu werden. Es wollte nicht im "Club der besiegten Nationen" mitmachen und auch keine souveränen Rechte abgeben. Deshalb war es nur konsequent, dass es auch an den Verhandlungen zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht teilnahm.

Stattdessen pflegte London die Beziehungen zu den USA ("special relationship") und gründete 1960 als Gegengewicht zur EWG die Europäische Freihandelszone (EFTA) mit Norwegen, Dänemark, Portugal, Schweden, Schweiz und Österreich. Die EWG hatte die wirtschaftliche und politische Integration zum Ziel, die EFTA nur eine wirtschaftliche Freihandelszone. Angesichts der großen Erfolge der EWG stellte Großbritannien 1961 dann aber doch den Antrag auf Mitgliedschaft in der Gemeinschaft. Zwei Jahre wurde verhandelt, dann kam das Non vom französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle - zur großen Enttäuschung von Premierminister Macmillan. Seine Ablehnung begründete de Gaulle so: "England ist in der Tat eine Insel, es ist maritim.[. . .] Es hat in allem, was es tut, sehr eigene Gewohnheiten und Traditionen. Kurz gesagt, die Natur, die Struktur und die Konjunktur, die England eigen sind, unterscheiden sich zutiefst von denen der Länder auf dem Kontinent."

Erst mit dem Rücktritt de Gaulles im Jahr 1969 kam wieder Bewegung in die europäische Entwicklung. Großbritannien stellte erneut einen Antrag auf Mitgliedschaft. Ende 1971 stimmte das britische Unterhaus dem Verhandlungsergebnis zu. Es war ein historischer Moment. Auf den Klippen von Dover hatte Macmillan auf das Abstimmungsergebnis gewartet, um ein Freudenfeuer anzuzünden, das - Symbol genug - mit einem ebensolchen Freudenfeuer auf der anderen Seite des Kanals am Pas de Calais beantwortet wurde. Die Erweiterung von sechs auf neun Staaten erfolgte dann Anfang 1973 durch den Beitritt Großbritanniens, Irlands und Dänemarks.

Maastricht & die Folgen

Zwei Jahre nach dem Beitritt Großbritanniens stand dessen Mitgliedschaft wieder zur Disposition. Die neue Labour-Regierung hatte der Bevölkerung ein Referendum zugesichert. Am 5. Juni 1975 sprachen sich 67,2 Prozent der Briten für den Verbleib in der Gemeinschaft aus. Neun Jahre später gab es wieder Probleme: 1984 wollte die konservative Premierministerin Margaret Thatcher - sehr zum Ärger von Bundeskanzler Helmut Schmidt - ihr Geld zurück ("I want my money back!") und erzwang den "Briten-Rabatt": Das Land erhielt einen Rabatt in der Höhe von etwa zwei Drittel seiner Nettozahlungen, der von den übrigen Mitgliedstaaten aufgebracht wurde.

Es gab weitere Erweiterungen: 1981 Griechenland, 1986 Spanien und Portugal. Der deutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein italienischer Kollege Giulio Andreotti gaben das Startsignal für einen großen Reformschritt innerhalb der Europäischen Gemeinschaft. Im Winter 1985/86 einigte man sich auf die Einheitliche Europäische Akte. Zu den wichtigsten Inhalten dieses Dokuments gehörten die verbindliche Festlegung des Stichtags 1. Jänner 1992 für die Vollendung des Europäischen Binnenmarktes, die Einführung von qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat über Angelegenheiten des Binnenmarktes sowie die Stärkung des europäischen Parlaments.

Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur weiteren Integration war die Konferenz von Maastricht im Dezember 1991. Die zwölf dort versammelten Staats- und Regierungschefs waren fest entschlossen, die Integration voranzutreiben. Maastricht wurde zum bedeutendsten Reformschritt seit Gründung der EWG im März 1957. Der Vertrag von Maastricht, der im Februar 1992 unterzeichnet wurde, sah unter anderem die Schaffung einer europäischen Wirtschafts- und Währungsunion mit einheitlicher Währung sowie die Errichtung einer europäischen Zentralbank vor. Die Europäischen Gemeinschaften (EG) wurden zur Europäischen Union (EU). Es begann nun das Wagnis, eine politische und wirtschaftliche Union zu entwickeln. Ein Unterfangen von historischer Tragweite.

Am 1. Jänner 1995 traten Österreich, Schweden und Finnland der Gemeinschaft bei (die EFTA besteht seither nur noch aus vier Staaten: Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweden). Drei Monate später traten das Schengener Abkommen über die Abschaffung der Personenkontrollen an den EU-Binnengrenzen sowie eine gemeinsame Sicherheits- und Asylpolitik in Kraft. 2004 gab es mit zehn weiteren Beitrittsländern den letzten großen Beitrittsschub, dem Anfang 2007 noch Bulgarien und Rumänien und 2013 Kroatien folgten. Am 1. Jänner 2002 führten 12 Länder den Euro als gemeinsame europäische Bargeld-Währung ein. Inzwischen sind es 19 von 28 EU-Mitgliedern mit insgesamt 340 Millionen Bürgern.

Dass die Integration Europas eine Erfolgsgeschichte war - zumindest für die letzten 60 Jahre -, ist unbestritten. Es gab zwar immer wieder Probleme, aber sie wurden fast sämtlich gelöst. Noch nie waren sie allerdings so groß wie im Jahre 2017. Es gab und gibt Misstrauen an der Basis gegenüber Brüssel, vielerorts Desinteresse, mangelnde Bürgernähe, immer wieder schlagen auch nationale Interessen durch. Die Bevölkerungen nehmen viele Sachverhalte als verwirrend wahr.

Jetzt gibt es ein neues Phänomen: Statt mit Erweiterungen hat es die EU nämlich zum ersten Mal in ihrer Geschichte mit einem Austritt zu tun. Im Juni 2016 hat eine knappe Mehrheit der Briten für den Brexit, den Austritt aus der EU, gestimmt. Die britische Premierministerin Theresa May will einen "harten" Brexit: die Gemeinschaft wird damit ihre drittgrößte Wirtschaftskraft, den zweitgrößten Nettozahler und ein diplomatisches Schwergewicht im UN-Sicherheitsrat verlieren.

Was wollen die USA?

Zum Brexit kommen andere Probleme: die kontinuierlich wiederkehrende Wirtschafts- und Schuldenkrise Griechenlands und der Flüchtlingsstreit: Ungarn, die Slowakei, Tschechien und Polen weigern sich, Flüchtlinge aufzunehmen; stattdessen bauen sie Grenzzäune. Rechtspopulisten wittern die Gunst der Stunde. Dann der Terror: die islamistischen Anschläge in Frankreich, Belgien und zuletzt auch in Deutschland haben Lücken bei Absprachen und Austausch offenbart.

Und was ist mit den USA? Die Signale aus Washington könnten nicht verwirrender sein. Der neue Präsident Donald Trump hat den Brexit als "fantastisch" begrüßt; das geplante Freihandelsabkommen TTIP wird es wohl nicht mehr geben. Der Zustand der EU ist Trump "ziemlich egal"; die EU ist aus seiner Sicht nur gegründet worden, "um die Vereinigten Staaten im Handel zu schlagen". Da unterstreicht US-Vizepräsident Mike Pence in Brüssel die Bedeutung der EU für die USA, während der wichtigste Berater von Trump, Steve Bannon, in Washington das genaue Gegenteil betont: Die EU sei eine fehlerhafte ("flawed") Institution.

Was wird also aus dem vereinigten Europa 60 Jahre nach Gründung der EWG? Ist der Brexit der Anfang vom Ende? Droht der EU womöglich der schleichende Zerfall? Fragen, die vor zehn Jahren so wohl niemand gestellt hätte. Oder ist der Brexit die Chance für ein "neues" Europa? Mit gemeinsamer Außen- und Verteidigungspolitik, möglicherweise in einem "Europa der zwei Geschwindigkeiten"?

2017 wird in jedem Fall ein Schicksalsjahr für Europa werden. Bei den Wahlen in den Niederlanden am 15. März blieb die Partei des Rechtspopulisten Geert Wilders weit hinter den Erwartungen zurück. Als Europäer kann man nur hoffen, dass die Präsidentschaftswahl in Frankreich ähnlich ausfällt und es keine Präsidentin Le Pen geben wird. (Nachlese vom 25.3.2017)

Rolf Steininger, geboren 1942, ist Em. o. Univ.-Prof. und war von 1984 bis 2010 Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte an der Universität Innsbruck.